Eine Reiseerfahrung in Instanbul
Ich wollte Istanbul nur erleben. Aber die Stadt hat mich genommen, durchgeschüttelt und wieder ausgespuckt. Was bleibt, sind die Schritte, ein bisschen Rückenschmerzen vom Perlenschleppen und ein Text, den ich gleich noch auf dem Rückweg nach Sarıyer geschrieben hab und der hoffentlich genau das festhält:
Überforderung nämlich, Schönheit, Warten, Selbstführung und alles dazwischen. Alles, was du sonst noch über Istanbul wissen solltest, findest du hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Istanbul
11 666 Schritte – Istanbul. Jetzt.
11. November 2025 · 20:20 Uhr Istanbul.
11 666 Schritte.
Jetzt sitzen wir im Boot nach Sarıyer.
Großer Bazar. Blaue Moschee. Mittagessen bei Özkan Köfteci. Hagia Sofia. Schritte und Schritte.
Wir schleppen viel mit uns.
Alişveriş.
Großeinkauf beim Perlen-Großhändler. Nazar Bonçuk – diese blauen Augen aus Glas – und Armbändchen aus Stein.
Handel ist manchmal schwer. Glas und Stein – sie wiegen mehr, als man glaubt.
Wir kauften mindestens tausend und eine.
Der Bosporus treibt sich um.
Zieht sich durch die Stadt und durch die Gedanken der 16 Millionen Menschen.
„Wir arbeiten für 16 Millionen täglich“ – so stand es auf der Jacke des Schiffsmatrosen.
Istanbul.
Stadt auf zwei Kontinenten.
Du bist ein Glitzermeer, ein Ungetüm, ein Orakel und eine Frage, die nicht beantwortet werden kann.
Du bist laut und ungezähmt.
Dunkel.
Und gleißend.
Wer weiß dich zu nehmen?
Wer kennt dich?
Heute ist Atatürks Todestag. Der wievielte eigentlich?
Die Menschen hatten heute frei – die Stadt nicht.
Touristen strömen herein und heraus. Wie Atem.
Frischer Wind, dem man bald überdrüssig wird.
Wir hören viel: Maschinen. Motoren. Schiffe. Verkehr. Leben eben.
Hunderttausend Worte, Fetzen aus tausend Sprachen.
Wir sehen in unzählige Gesichter: voller Hoffnung, voller Wünsche.
Und in Gesichter, die nicht sie selbst sind – Botox unter der Haut, und darunter, viel tiefer: Träume.
Gesichter hinter Schleiern, strengen Mienen, Bärten, die überraschend lustig ausschauen.
Jung und Alt vermengt sich.
Heute folge ich meinem Mann. Er stoppt, filmt, macht Musik, erledigt Business – überall zugleich.
Ich warte. Schaue. Beobachte das Treiben und mich selbst – zwischen Überforderung, Überdruss und Neugier.
Vor ein paar Stunden waren wir dort – im Bazar.
Der gesamte Handel der Türkei hat hier seine Heimat.
Alles schiebt sich, dicht gedrängt, verwebt sich zu einer pulsierenden Masse.
Ich erinnere mich kaum.
Von Eindrücken überrollt, schlossen sich alle Kammern in mir.
Selbst Staunen war schwierig.
Die Welt, verdichtet an einem Ort.
Frauen in riesigen schwarzen Kleidern – nur Augen.
Männer in Karo-Hemden – Karos, wohin das Auge blickt.
Ungewöhnlich viele junge Menschen in schwarz. Nicht zu übersehen.
Unglaublich viele Kinder.
Parfüm, schwer in der Luft.
Katzen, die ihre Gerüche in Ecken verewigt haben.
Für den Geruchssinn eine Prüfung.
Ja – Menschen im Pulk riechen.
Und diese Gewürze – sie wehen noch immer durch mein Gehirn.
Und die Farben.
Seit Stunden kombiniere ich alles, koche ich innerlich ein Mahl nach dem nächsten, kreiere Menüs – und bin wunderbar satt.
Gut – ja. Auch wegen der Rolle Pistazien-Lokum, die ich in einem Satz verputzt habe. Köstlich.
Dann dieses Glitzern: Schmuck, wohin das Auge reicht.
Echt und künstlich.
Unzählige silberne Glieder, ineinander geschmiegt, eine einzige Fläche.
Goldringe in Auslagen – Versprechen für immer.
Enge Straßen.
Verwinkelte Gassen.
Prächtige Alleen mit alten, prunkvollen Gebäuden.
Ein Fließen. Ein Schwingen. Ein Strömen. Ein Drängen.
Alles ist in ständiger Bewegung.
Überall Läden. Stände. Angebote.
Auslagen, sortiert nach kleinen Welten.
Abendmode, Brautkleider.
Kunstblumen.
Decken.
Coole Messer.
Kindershirts mit Barbie, Elsa und Co.
Plastik aus China.
Plüsch aus sonstwo.
Anti-Käfer-Chemie.
Socken – von Hand gestrickt.
Muezzine rufen ihre Gebete von den nahen Moscheen.
Kinderkreischen.
Hohe Frauenstimmen.
Händler, die laut Granatapfelsaft ausrufen.
Aus der Mitte erklingen die Rhythmen der Karrenräder, die Lasten von einem Ort zum anderen bringen.
Überhaupt frage ich mich:
Wie bitte versorgt, ernährt und kleidet man eine Stadt mit über 16 Millionen Menschen?
Fliegenklatschen, Kurufasülye, Simit, Sebze-Mebze und türkischem Kaffee: sade, orta, şekerli?
Und der Müll?
Ich habe Fragen.
Schon hält unser Boot an der nächsten Station – Emirgan.
Über dem Schiff Möwen, selbst nachts kreisen sie über der Stadt.
Auf dem Wasser glitzert gelbes Licht.
Dort hinten wirft eine Ampel ihr grünes Leuchten hinab.
Wie tausend Perlenketten ziehen sich die Lichter auf beiden Seiten des Bosporus
und spannen sich dreimal hinüber – drei Brücken.
Wie schaffen es all diese Schiffe und Boote darunter, sich auszuweichen?
Das letzte Schiff – unseres – wird um 21:45 Uhr in Sarıyer ankommen.
Der Mann hinterm Tresen zählt sein Geld. Seit acht Uhr früh ist er unterwegs.
Zeit, heimzugehen.
Der Tag lief gut: Tee, Kaffee, Kekschen, Portakal-Suyu.
Feiertag. Und er hat gearbeitet.
20 Lira ein Gläschen Tee – 40 Cent.
Heiß. Dunkel. Erfrischend.
Hier trinkt ihn jeder – Tag und Nacht.
11 666 Schritte.
Über Asphalt und Schotter, über Teppiche, über uralte Steine.
Menschen aus aller Welt – mit uns geht die bunte Welt.
Mein Herz klopft.
Vor Freude.
Vor Staunen.
Vor Sehnen.
So viel Lebendigkeit.
Und ich weiß auch:
Das Leben hier ist schwer.
Es wird schwerer.
Alles ist fast unbezahlbar.
Die Menschen in dieser Stadt fragen sich:
Wie soll das nur weitergehen?
Doch glaube ich auch:
Diese Stadt hat so viel gesehen, gerochen, gefühlt, geschmeckt
wie keine andere auf diesem Planeten.
Ach, Bosporus – wenn du eins kannst, ist es Hoffnung schenken.
Hoffnung, dass alles im Fluss ist.
Los, mach schon.
Und morgen gehe ich mit dir –
11 666 Schritte.
Hier noch ein paar Fragen für hinterher:
• Was in deinem Leben ist gerade „zu viel“? Was davon ist wirklich deins?
• Wo rennst du hinterher, obwohl du stehen bleiben müsstest?
• In welchen Momenten verwechselst du Warten mit Stillstand?
• Welche Überforderung zeigt dir in Wahrheit, dass etwas gesehen werden will?
• Was würdest du mitnehmen, wenn du heute 11 666 Schritte gehen würdest? Und was würdest du zurücklassen?
• Wer bist du mitten im Lärm? Und wer willst du dort sein?
• Welche Entscheidung wartet schon länger darauf, dass du sie triffst?
• Was sagt dein Herzschlag dir, wenn du endlich hinhörst?
Wenn du Lust hast, tiefer einzutauchen:
Ich schreibe weiter über Wandel, Wahrnehmung und den Mut, stehenzubleiben.
Mehr davon findest du hier im Blog.

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