Schatten – oder wenn Licht auf den Stein trifft
Ich bin gerade unterwegs in Südostanatolien. Licht und Schatten liegen hier ganz dicht beieinander. Es ist Ende Oktober und doch brennt die Sonne, glühen die Steine, der Regen lässt auf sich warten. Immer noch. Hinter jedem Tor, in jedem Innenhof wartet ein kühler, stiller Raum.
Vielleicht hat mich genau das hergeführt: Stille. Hitze. Trubel. Gegensätze.
Alles ist sichtbar, laut, heilig, voller Geschichten. Und ich fühle hier tiefer, mächtiger, wie viel in mir selbst gerade in Bewegung ist.
Altes, das gehen will. Neues, das noch keinen Namen hat.
Schattenarbeit ist also gerade keine Theorie für mich, sondern Alltag.
Sie geschieht andauernd: wenn ich mich selbst ertappe. Sobald ich hinschaue. Wenn ich mich im Anderen sehe. Wenn ich merke, dass ich mir mal wieder selbst im Weg stehe. Oder endlich Platz mache.
Darum dieser Text.
Er soll Fundstück, Spiegel und Einladung zugleich sein. Für dich. Und auch für mich.
Schattenarbeit klingt immer so, als müsse sie schwer sein. Voll Leid und Anstrengung. Dabei ist sie eigentlich nichts anderes als ehrliches Hinschauen. Auf das, was wir lieber verstecken würden: unsere Wut, unser Neid, unsere Angst, unser Bedürfnis nach Anerkennung. Oder diesen ewigen Versuch, alles im Griff zu behalten.
Im Coaching bedeutet Schattenarbeit nicht, bis aufs Blut in alten Wunden zu wühlen. Wir wollen verstehen, was wir abspalten, wenn wir einfach nur funktionieren. Wenn wir wieder ganz werden – wie viel Kraft wird da frei! Wie viel Kreativität! Licht und Dunkel, klar und verletzlich, alles da.
Meine Geschichte aus dem Kloster Mor Gabriel erzählt genau davon. Vom Licht, das den Stein wärmt. Vom Staub, der hustet. Vom Versuch, alles festzuhalten. Und vom Moment, in dem der eigene Schatten plötzlich Frieden schließt.
Schatten
Vorhin war ich im Kloster Mor Gabriel. In Südostanatolien.
Über die Weite der Landschaft südöstlich von Midyat erhebt sich das Kloster mit seinen uralten Mauern. Es lebt.
Uralte, goldrosafarbene Kalksteine flüstern still, unermüdlich tausendundeine Geschichte von der Sonne, die sie seit Jahrhunderten wärmt. Von Mönchen, Nonnen und Schülern, die dieselben Stufen hinauf und hinabsteigen, bis sie blank glänzen.
Die Steine kennen die Bibliothek. Sie waren Zeugen jedes Schriftzugs, der hier je geschrieben wurde. Sie kennen jedes Wort, das von hier in die Welt ging. Können die Mosaiken jede Zeile der Liturgien mitsingen? Ja, sie können. Und sie halten in ihren Vertiefungen, wie die Mauerritzen, den Duft von Weihrauch und Myrrhe.
Psalmen. Kerzen. Gebet. Arbeit. Unterricht. Bischofssitz. Pilgerstätte.
Blitzblank. Vielleicht der sauberste Ort der Türkei. (Neben dem Haus meiner Schwiegermutter.)
Morgens, um neun, öffnen sich für zweieinhalb Stunden die schmiedeeisernen Tore für jene, die Mor Gabriel im Tour-Paket gebucht haben. Sie strömen aus den Bussen. Der ganze Kosmos in Bewegung: Mütter, Väter, Kinder, rüstige Rentner, Spazierfreudige mit Plastikflasche, Lipgloss, Sonnenbrille, Kopftuch. Jede Hand hält ein Handy.
Voran der Reiseführer mit seinem Wimpel am Stab, ausgefranst, von Jahren und Sonne gebleicht. Schon auf der Allee klicken sie hundertfach.
Kaum öffnet sich die Tür, entweicht ein kurzes andächtiges Raunen, bevor sich Lippen und Münder, je nach Facon, gespitzt oder lasziv geöffnet in Kameras spreizen.
Für die Steine ist das neu, relativ gesehen.
„Selfies, Selfies“, raunen die Mauern. Sie kneifen die steinernen Lider zusammen bei jedem Blitz. „Selfies“, hustet der Staub. Die Treppe stöhnt.
Das zwanzigste, dreißigste, sechzigste Foto – zählen Sie mit?
Zwei junge Frauen, schön wie aus dem Katalog, warten, bis die Gruppe verschwunden ist. Lüften Jäckchen und Röckchen, zeigen Schulter, blankes Knie.
Ein alter Mann mit Gehstock sieht zu. Verwundert. „Warum fotografiert ihr immer nur euch? In der alten Zeit gab es das nicht.“ „Tja“, sagen sie, „das nennt man Selbstliebe. Die gab’s früher wohl auch nicht.“
Sie rollen die Augen. Drehen sich um. Gehen.
Er bleibt. Schaut. Legt die Finger auf den Stein, als wollte er seine Wärme prüfen. Einst war er Schüler hier, schrieb aramäische Buchstaben von rechts nach links in makellosen Bögen. Manchmal, wo immer er ist, rezitiert er noch immer, leise, für sich, einen Psalm aus der Tiefe.
Ich folge dem vorgeschriebenen Weg. Halte Abstand, Absperrbänder. Treu meiner Regel: weit weg von Gruppen, die meine Knöpfe drücken.
Laut kreischende Kinder. Eltern, die vergessen, dass sie Eltern sind. Besserwissende Senioren. Vordrängler. Dauerfotografierende. Soll ich weiter aufzählen? Es reicht. Yeter.
Also folge ich den Mustern der alten Zeit. Dem Licht.
Besessen versuche ich, alles festzuhalten, zu fixieren, zu konservieren. Ich halte mit dem Handy überall drauf. Nur Selfies – das bleibt schwierig.
Wie war das nochmal mit der Selbstliebe?
Ich hebe den Blick. Über mir die helle Vormittagssonne.
Da finde ich meinen Schatten, er findet mich.
Wir sind still.
Ein Schritt weiter
Schattenarbeit ist nie eine einmalige Erkenntnis, sondern immer ein Prozess. Und auf jeden Fall ein Weg zurück zur inneren Klarheit. Wenn du selbst an einer Schwelle stehst, wo sich Altes als überholt erweist, wo sich eine Unschärfe zeigt, weil Neues noch nicht greifbar ist, begleite ich dich gern auf deinem Weg.
Im Einzelcoaching schauen wir gemeinsam hin. Ohne Drama, aber mit Tiefe. Wir erforschen, was dein Schatten dir eigentlich zeigen will, und wie du daraus wieder gestärkt ins Licht treten kannst.
Mehr dazu findest du hier:
👉 Einzel im Wandel

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