Ganz oben: Vom Größenwahn, der Demut und dem Glück, trotzdem lebendig zu bleiben
Manchmal weiß ich erst hinterher, ob etwas mutig war oder einfach nur dumm.
Vor ein paar Tagen, während unserer Reise durch Südostanatolien, wollten wir auf den Berg Nemrut hinaufsteigen. Bilderbuchwetter, 26 Grad, kein Wölkchen am Himmel und allerbeste Laune im Camper. Der Mann, mein Mann, Süel wollte Musik machen, ich hingegen schöne inspirierende Eindrücke und kontemplative Momente einsammeln. Doch schon die Fahrt dorthin zog sich merkwürdig in die Länge. Unser Camper hatte Mühe, sich den Berg hinaufzuhieven – zehn Prozent Steigung und mehr. Kein Pappenstiel für so ein dickes Ding.
Dann, plötzlich – an einer besonders steilen Stelle – zeigte die Warnlampe: Kein Sprit. Null. Zero. Hiçbir şey. Nix.
Kurzer Schock.
Also drehten wir um – der Tank war noch zu einem Viertel voll –, um ganz sicher zu gehen, dass wir auch bei voller Steigung genug Diesel haben.
Unterwegs fragten wir an einer kleinen Pension nach der nächsten Tankstelle. Doch noch während wir unsere Frage stellten, schweifte unser Blick zu den herrlich gedeckten Frühstückstischen unter kleinen Pavillons, mit Blick in ein weites, liebliches Tal. Im selben Moment bot uns der freundliche Herr an, uns mit seinem starken Jeep den Berg hinaufzuchauffieren – ganz schonend, sowohl für unseren Camper als auch für Süel, der immer fährt. Ha! Welch eine Offerte. Und wir hatten ja Zeit. Und Muße. Und Appetit. Ein köstliches Frühstück – oder? Ja!
Frisch gestärkt konnte das Abenteuer beginnen. Nicht lang darauf hielt der Jeep unten am Gipfel, jetzt noch siebenhundert Meter zu Fuß. Steil aber: Machbar.
Just in dem Moment, als der Berg sich direkt vor uns aufrichtete – ja, er erblickte uns, und wir ihn –, zog ein Unwetter auf. Links der Himmel schwarz, rechts noch blau. Der Tourguide meinte: „No Problem. 30 % Rain!“ Und ließ uns losziehen.
Wir hätten umkehren können. Aber etwas in mir trieb mich, sagte: „Los jetzt. Mach. Heulen kannste hinterher.“
Oben angekommen prasselte es auf uns ein: Hagel, fette Körner, eiskalt. Warum steigt man absichtlich auf einen Berg, obwohl wetterliches Unheil droht?
War es Leichtsinn? Oder Gottvertrauen? Ich glaube, beides.
Leben und Vernunft sind selten schön geordnet.
Manchmal gehst du einfach weiter und dann trifft dich das Leben nass, laut und ungebeten. Musik machte nur noch der Hagel – auf dem eisernen Instrument. Süel hatte die Hülle der Lunalita zum Schutz gegen den Hagel auf dem Kopf: ein Bild für die Götter!
Und dann standen wir da – allein – zwischen ihnen – den gefallenen Göttern. Wir hatten diesen Berg für uns.
Eigentlich hatte König Antiochus diesen Berg für sich erwählt, um sich selbst ein Denkmal zu setzen – nah bei Himmeln und Göttern. Warum das alles? Was wollte er so hoch da oben? Und warum trägt der Berg heute den Namen Nemrut – nach jenem uralten König, der sich selbst auch für Gott hielt? Vielleicht verwechseln sich die Größen, wenn sie hoch genug stehen. Was war es? Größenwahn – oder einfach: Einsamkeit?
Steinerne Riesen, ihre Köpfe am Boden, die Körper im Himmel. Zwischen Größe und Vergänglichkeit liegt nur die Zeit. Und was ist das schon – Zeit? Am Ende nur ein Momentum des Egos.
Der Berg Nemrut: Mehr als zweitausend Meter Höhe. Mehr als zweitausend Jahre alt. Mehr als zweitausend Besucher am Tag.
Aber in diesem Augenblick: Wir – allein!
Alles war – nur für uns dort hingestellt. Magisch.
Der Hagel polterte mahnend auf uns ein.
Ich dachte: „Riesiges Ego, Antiochus. Und deins auch, Nimrod, Urfa-König, du hast dich ja auch für einen Gott gehalten“.
Und ich? Hier oben – im Sturm, allein, erhaben, unbesiegbar. Größenwahnsinnig. Ich schämte mich ein bisschen.
Dann sah ich ihn: einen winzig kleinen, schwarz-weißen Vogel – direkt zu Füßen des riesigen Adlers aus Stein. Eine Bachstelze. Sie tanzte mit dem Hagel, als wäre er ihr bester Freund. Voller Wonne nahm sie ein Bad in einem eiskalten Pfützchen. Während der Hagel auf uns niederprasselte, spielte sie vergnügt mit dem Sturm. Gerade so, als wäre die ganze, zweitausend Jahre alte Anlage nur für sie gemacht.
Und da wusste ich: Das hier ist allein ihr Ort. Und ich darf Zeugin ihres Vergnügens sein. Herrlich!
In diesem Moment riss der Himmel auf, und die Sonne schob sich breit und hell und mit voller Macht durch die Wolken.
Ist das die ganze Lehre vom Berg? Die einen wollen unsterblich sein. Die anderen leben.
Und noch dies: Ganz unten
Eine Bachstelze ist kein stolzer Adler. Klein ist sie, flink und frech. Und sie hat etwas, was den Göttern dort oben fehlt: Bewegung. In vielen Kulturen steht sie für Beharrlichkeit und Leichtigkeit, für die Fähigkeit, sich anzupassen – an Sturm, Regen, Hagel. Sie ist das Gegenteil der gefallenen Götterköpfe. Oben auf dem Nemrut zerbröseln langsam, ganz langsam die Egos – die aus Stein ganz offensichtlich. Und auch die der Besucher*innen? Und mittendrin tanzt ein winziger Vogel durchs Nass. Er hat keine Botschaft, er tanzt – einfach, weil er’s kann.
Und ich? Ich stehe da, kalt, nass bis aufs Höschen, bewegt – und ertappt. Ich wollte viel zu viel: Kontemplation, diesen Moment ganz für mich, diese Höhe, diese Geschichte, dieses Gefühl von „oben angekommen sein“. Ja, da waren definitiv Ego und Eitelkeit dabei.
Das Geschenk des Reisens
Hierin liegt für mich das wahre Geschenk des Reisens: Wir begegnen uns selbst. Ja, all dem Alten, das gehen darf, und dem Neuen, das sich zeigen will. Dafür brauchen wir Mut. Und gleichzeitig Demut.
Leichtigkeit ist keine Vermeidung von Schwere. Sie ist die Kunst, lebendig zu bleiben – mitten im Sturm. Nicht drüberzustehen, sondern da zu sein. Nass, frierend, echt. Und dankbar, überhaupt zu spüren.
Denn das ist es doch, was uns trägt: Nicht die Kontrolle, nicht das Wissen, nicht der Plan. Sondern dieser Moment, in dem du sagst: „Ich bin hier. Ich lebe. Und das reicht.“
Fragen für dich
- Wann hast du dich das letzte Mal in etwas wiedergefunden, das du an anderen leicht – oder mehr als mittelschwer – belächelst?
- Wo zeigt sich dein eigener Schatten, wenn du glaubst, „drüber zu stehen“?
- Wie erkennst du den Anfang von Veränderung?
Reisen – ob im Außen oder Innen – bringt uns immer wieder an Schwellen. Manchmal stehen da gefallene Götter. Manchmal eine Bachstelze. Und manchmal wir selbst – mitten im Wandel. Wohin genau? Das zeigt sich unterwegs.
FAQ – Was der Berg Nemrut mit Wandel zu tun hat
Was ist der Nemrut Dağı?
Der über 2.000 Meter hohe Berg in Südostanatolien ist berühmt für seine steinernen Götterfiguren aus der Zeit des Königs Antiochus I. von Kommagene.
Was symbolisiert er im übertragenen Sinn?
Er steht für Größenwahn, Vergänglichkeit und den Moment, in dem aus Kontrolle Demut wird.
Was kann ich daraus lernen?
Wandel gelingt nicht durch Perfektion, sondern durch die Fähigkeit, bewusst im Sturm zu bleiben: wach, menschlich und lebendig. Wenn du mehr wissen willst, lies gerne hier weiter: UNESCO – Nemrut Dağı
Mehr solcher Geschichten über Mut, Wandel und das echte Leben findest du in meinem Blog / Inspiration Ich sammle Übergänge.

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